Aller Anfang …

Die Geschichte eines Königsbergers

erzählt von Gerhard Gottaut, aufgeschrieben von Detlev Gottaut

Ein echter Ostpreuße (2019)

Das Schwerste bei jedem Weg, egal ob er lang ist oder kurz, ist die Entscheidung aufzustehen und den ersten Schritt zu tun. Immer wieder hatte ich vor, einmal alles aufzuschreiben, was in meinem Leben so passiert ist, doch bekanntlich ist aller Anfang schwer.

Ich bin Jahrgang 24. Man bedenke: Neunzehnhundertvierundzwanzig! Da kommt schon einiges zusammen: Eine Kindheit ohne Fernsehen, ohne Kühlschrank. Lampen ohne Strom, befeuert mit Petroleum oder Gas. Filme nur im Kino: schwarzweiß, aber immerhin schon mit Ton! Dann der Krieg – Millionenfaches Sterben! Verlust der Heimat, Wiederaufbau. Wahre Liebe, Hochzeit, Kinder. Alles „nur“ Buben, dreimal. Gute Jungs, aber ein Töchterchen wäre schön gewesen. Hat nicht sollen sein, leider.

WM ’54. Zuhause im Radio oder in der Flimmerkiste im Wirtshaus. Sepp Herberger, Fritz Walter, Helmut Rahn, man ist wieder wer. Die erste eigene Glotze, die kleine und die große Welt zu Besuch im Wohnzimmer: Lou van Burg („Wunnebar wunnebar“), Bernhard Grzimek mit Gepardin „Sheeta“ und Robert Lemkes Rateshow – welches Schweinderl hätten’s denn gern? Heinz Maegerleins breiter Scheitel, Neil Armstrong auf dem Mond und Cassius Clay im Ring – mitten in der Nacht, dafür stellt man in Deutschland extra den Wecker. Dann das erste Auto, ein tragbares Transistorradio für den Ostseestrand oder den Kärntner Aichwaldsee.

30 Jahre später Computer, die auf einen Schreibtisch passen. Zuerst schnurlose Telefone, dann Handys, klein wie Handteller, die diese Computer sogar noch weit übertreffen und auf denen viele ihr täglich Brot mit der Welt teilen – als Fotos. Autos, die mit uns sprechen und uns so den richtigen Weg weisen („Sie haben Ihr Ziel erreicht!“) und so vieles mehr.

Es gäbe noch manches, was aufzuzählen wäre. Unglaublich, was in die Zeitspanne eines Menschenlebens hineinpasst. Nun, da der längste Teil des Lebens unbestreitbar hinter mir liegt, fange ich endlich damit an. Und dann auch noch in einem Internet-Blog! Eigentlich ist das alles kaum zu glauben! Als ich der kleine, mittellose Junge in Königsberg war und von Abenteuern und Helden träumte wie jeder Steppke, war selbst in unseren kühnsten Vorstellungen nicht zu ermessen, wie die Welt sich in einem einzigen Lebensalter ändern würde.

Manchmal wünsche ich mir eine Zeitmaschine. Dabei ist es weniger die Zukunft, die ich mich neugierig macht. Für mich ist es mit zunehmendem Alter gerade die Vergangenheit, die mich in ihren Bann zieht. Das Morgen kommt von selbst, das Gestern hingegen ist oft verloren.

Meine Heimat war Ostpreußen, mein Atlantis heißt Königsberg. Verblassende Erinnerungen auf vergilbten Fotos, die man mit Wehmut betrachtet – ein ziehender Schmerz in der Seele, mit dem sich von Zeit zu Zeit die Sehnsucht nach der Heimat bemerkbar macht. Im Traum erscheinen mir oft die Bauten und Straßen meiner Heimatstadt und erstehen wieder für mich auf – unauslöschbare Spuren meines Damals. Details, die kein Geschichtsbuch lehren kann, die aber in jeder Bitte der Kinder und Enkel mitschwingt: „Erzähl doch mal, Papa (oder Opa), wie war das damals?“

Ein Problem gibt es jedoch mit dem Niederschreiben: wenn man 95 geworden ist, häufen sich die Wehwehchen und leider hat mich meine Sehkraft fast vollständig verlassen. Aber ich will nicht jammern – „so kaputt oder totgekitzelt“ lautet seit jeher mein Wahlspruch. Nutzt ja nix, über verschüttete Milch zu lamentieren. Wenn schon, dann lieber mit einem Lachen scheitern. Ich sehe zwar nur noch schemenhaft, aber im Stübchen oben brennt noch Licht und vor meinem geistigen Auge ist Königsberg noch genauso, wie ich es zum letzten Mal gesehen habe – bevor ich es für immer verlassen und in den Krieg ziehen musste. Und so bediene ich mich eines Ghostwriters, dem ich alles schildere. Haben schon andere vor mir gemacht und sind dabei reich geworden. Diesen Ehrgeiz besitze ich zwar nicht, aber es schönt vielleicht den Nachruhm.

Lassen wir also nicht noch mehr Zeit vergehen! Allzuviel wird mir, bei aller Fürsprache meiner lieben Oma Königsberg, von unserem Herrgott wohl nicht mehr zugestanden werden. Gehen wir es also an, verreisen wir gemeinsam in die Welt meiner Jugend!

Lies man tou – hier geht’s weiter.

Gerhard Gottaut

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